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Der Gewerbestandort Erste Mühle
und das Fabrikantenwohnhaus Erste Mühle
 – Geschichte und Bedeutung

Von Erich Kahl

Den Namen verdankt die Erste Mühle ihrer Lage; sie war nämlich die erste Mühle an der Wupper, nachdem diese die Stadt hinter sich gelassen hatte. Neben der ehemaligen Mühle am Mahltor ist sie aber auch die älteste Wipperfürther Mühle, von der wir wissen. Beide Betriebe wurden als Stiftsmühlen der Herren von St. Aposteln zu Köln angelegt, die 1143 in Wipperfürth ein Filialstift einrichteten, dessen Kirche die heutige Pfarrkirche St. Nikolaus war. 1267 mussten die Stiftsherren, die sich um 1205 wegen kriegerischer Bedrängnisse wieder hinter die sicheren Mauern von Köln zurück­gezogen hatten, ihre beiden Mühlen an den Landesherrn abgeben[1], der sie 1450 der Stadt überließ[2].
Von nun an durften die Einwohner der Gemeinde nur hier mahlen lassen; die Pacht aus den Stadtmühlen wurde zur ergiebigsten Einnahmequelle der Gemeinde
[3]. Dieser „Mahlzwang“ oder „Mühlenbann“ wurde erst 1811 unter Napoleon aufgehoben. Nach dem Wegfall des Monopols galt die Gewerbefreiheit; in den Folgejahren häufte sich die Gründung neuer Mühlenbetriebe. Die Stadtmühlen wurden jetzt schnell unrentabel, zumal kostspielige Reparaturen bzw. der Neubau anstanden[4]. Die Stadt suchte ihre Mühlen zu verkaufen und lockte Interessenten mit der Aussicht, dass sich die Wassergefälle zur Anlage von Industriebetrieben eigneten[5].

Die Erste Mühle – bereits 1816 als „total ruiniert“ und „dem Einsturz nahe“ bezeichnet – wurde 1823 für 440 Taler an den Rotgerber Carl Theodor Drecker verkauft. Vor 1831 (Urkatasterriss) erwarb sie der Hückeswagener Kaufmann Johann Peter Franz Fomm (1794–1868)[6], der hier einen Textilbetrieb anlegte; im Adressbuch von 1833 heißt es: „Fomm, Peter Franz; Besitzer einer Walkmühle, Rauh- und Schermaschine; Erstemühle“[7]. 1831 hatte der Betrieb noch bescheidene Ausmaße, war aber wohl schon in einem Neubau untergebracht („Neuen Mühle“). In den Folgejahren wurde er zur Fabrik erweitert; ihren Umfang zeigt der Katasterplan, der die Nachträge von 1832 bis 1868 berücksichtigt; bildlich ist sie erstmals auf Firmenbriefköpfen der 1850er und 1860er Jahre dargestellt[8]. 1839 wird der Betrieb in den Wipperfürther Akten als „Tuchfabrik Fomm, Erstemühle“ erwähnt[9].

Fomm hat auch das bis heute fast unverändert erhalten gebliebene, inzwischen aber arg verwahrloste Fabrikantenwohnhaus errichten lassen, das ebenfalls auf den genannten Abbildungen zu sehen ist. Es handelt sich um eine biedermeierliche Villa bescheidenen Ausmaßes in der Tradition des klassizistischen bergischen Bürgerhauses. Die Formensprache der Geländertraljen verweist in die 40er Jahre des 19. Jahrhunderts; eine Präzisierung erlaubt die eigenwillige Lösung der Verbindung von Geländeranfänger und Handlauf, die so nur an einem einzigen anderen bergischen Haus belegt ist, das 1842 erbaut wurde[10]. Dieses Haus steht an der Bachstraße in Hückeswagen, gehörte ebenfalls einem Tuchfabrikanten und ist gerade einen Steinwurf vom Stammsitz der Familie Fomm entfernt. Der Schluss liegt nahe, dass an beiden Häuser derselbe Handwerker gearbeitet hat. Wohl zeitgleich mit der Villa Erste Mühle entstand der kleine Park mit dem Rondell; auch er ist in seinen Grundzügen auf den erwähnten Briefköpfen abgebildet. Nach Jahren der Vernachlässigung ist er heute nur noch als Biotop anzusprechen.

Fomm verkaufte den gesamten Komplex Erste Mühle 1850 an die aus Lindlar stammenden Brüder Constantin und Ewald Hamm (1807–1885 bzw. 1814–1899) und Constantins Schwager, den in Münster geborenen Eduard Braunstein (1819–1902)[11]. Die Gebrüder Hamm verlegten ihre 1837 in Wipperfürth gegründete Tuchfabrik an die Erste Mühle[12], blieben aber im Haus Untere Straße 27, das einmal der Familie de Berghes gehört hatte, wohnen. In die ehemals Fommsche Villa zog Eduard Braunstein, der sich mit der Firma „C. & E. Hamm“ die Produktionsstätten und die Energiequelle teilte; die Gewerbestatistik für 1861 gibt für beide Firmen eigene Webstühle, Meister und Gehilfen an und belegt, dass sie annähernd gleich groß waren[13]. Der Firma „Burgmer & Braunstein“ bzw. „Braunstein & Reckmann“Braunstein hatte bis 1870 jeweils einen Teilhaber – verdanken wir auch die schön bebilderten Briefbögen, die das Nebeneinander von Fabrik und Wohnhaus als biedermeierliche Idylle präsentieren und einen Eindruck vom patriarchalischen Selbstverständnis des Unternehmers vermitteln. In den 1860er Jahren übernimmt die Tuchfabrik Hamm das Motiv[14]. Zu erwähnen ist, dass Constantin Hamm auch als Reichstagsabgeordneter für die Zentrumspartei tätig war. Eduard Braunstein war viele Jahre lang Mitglied des Gemeinderats.

1875 nahmen Constantin und Ewald Hamm ihre jeweils einzigen Söhne Balduin (1845 –1908) und Robert (1845–1904) als Teilhaber in die Firma[15]. Etwa zu dieser Zeit erbauten Balduin und Robert an der Lenneper Straße eine großzügige Villa als Doppelhaus für ihre Familien. In den folgenden Jahren wurde die Fabrikanlage beträchtlich erweitert; das alte Gebäude verlängerte man zur Wupper hin, Neubauten kamen hinzu. Die Produktion umfasste Spinnerei, Weberei, Färberei und Appretur. Die baulichen Veränderungen wurden um 1885 von Theodor Meuwsen fotografisch dokumentiert[16]. Der 1880 errichtete Fabrikbau brannte allerdings schon vor der Jahrhundertwende wieder ab. Im frühen 20. Jahrhundert wurde die Tuchfabrik an der Ersten Mühle zum Ansichtskartenmotiv. Zum Standort gehörten auch zwei Arbeiterwohnhäuser, die so genannten „Archen“.

In den 1890er Jahren gab es einen Teilhaber Oelbermann („Oelbermann & Hamm“)[17]. Für die Firma arbeiteten mehrere Vertreter; in der Kölner Ehrenstraße unterhielt man ein eigenes Lager[18].

Der Ausbau des Standorts bzw. der gestiegene Raumbedarf der Firma Hamm waren wohl auch dafür verantwortlich, dass Braunstein um 1880 die Fabrik der Witwe Tonnar kaufte und seine Produktion an die Lüdenscheider Straße verlegte (Standort der heutigen Post). Seine Söhne Eugen (1850–1910) und Hugo (1859–1940) erbauten sich dort ein neues Wohnhaus (später Schreinerei Dreiner bzw. Spielwaren Flosbach), während die Eltern bis 1899 an der Ersten Mühle wohnen blieben. Nachdem in diesem Jahr Ewald Hamm gestorben war und seine Enkelin Hedwig Eduard Hartmann aus Hückeswagen geheiratet hatte, dessen Bruder 1926 erster Bürgermeister von Wuppertal wurde, zogen sie ins Hammsche Haus an der Unteren Straße und überließen die Villa dem jungen Ehepaar. Eduard und Hedwig Hartmann haben hier bis zu ihrem Tode (1956 bzw. 1961) gewohnt. Bis ins hohe Alter fand Hedwig Freude an der Pflege ihres Gartens; Fotos zeigen eine Idylle, die man heute kaum mehr erahnen kann.

Die Firma „C. & E. Hamm“ wurde von Eduard Hartmann und Balduin Hamms einzigem Sohn Constantin, genannt Constant (1872–1938), der während des Ersten Weltkriegs den Wipperfürther Bürgermeister vertrat und später zum Ehrenbürger  ernannt wurde,  weitergeführt, bis wirtschaftliche Schwierigkeiten, verbunden mit dem Fehlen eines Erben, nach etwa 100 Jahren ihr Ende brachten; Constant blieb unverheiratet, Eduard und Hedwig Hartmanns Sohn Walter wurde Arzt und betrieb von 1939 bis 1960 eine Privatklinik bei Chemnitz.

Später produzierten an der Ersten Mühle eine Schlossfabrik und das Press- und Spritzwerk Kuhbier; Anfang der 60er Jahre wurde das alte Fabrikgebäude leider vollständig modernisiert. Von einem in Bruchstein ausgeführten  Neubauten des späten 19. Jahrhunderts war ein Flügel erhalten, der zweite dagegen nur noch als Ruine vorhanden. Am Standort des um 1900 abgebrannten Fabrikgebäudes  war eine Molkerei entstanden. Nach dem Tode Hedwig Hartmanns wurde die gesamte Villa als Büro genutzt. In diese Zeit fallen der Einbau stilwidriger Billigfenster im Obergeschoss und das Verlegen unpassender moderner Fußbodenplatten in der herrschaftlichen Diele, die zudem durch eine Zwischenwand geteilt wurde. Alle diese Maßnahmen wären ohne gewaltigen Aufwand zu korrigieren. Nachdem die Firma Kuhbier in den 80er Jahren in Konkurs ging, wurden die Firmengebäude von der Firma KKP übernommen, die von Walter Hartmanns Witwe auch die Villa erwarb. 1998 kam es zu einem neuen Eigentümerwechsel (Bernd Laudenberg).

Seit dem Ende der 80er Jahre setzte sich der Heimat- und Geschichtsverein Wipperfürth für die Unterschutzstellung  der Villa als Architektur- und Geschichtsdenkmal ein. Folgende Argumente standen dabei im Vordergrund:

  • Der Komplex Erste Mühle ist für die Stadt Wipperfürth von besonderer historischer Bedeutung, weil sich an diesem Standort rund 800 Jahre kontinuierlicher Gewerbetradition festmachen lassen. Schon aus diesem Grund verdienen es die ältesten erhaltenen Gebäude, für die Nachwelt erhalten zu werden.

  • Die durch frühe Abbildungen in ihrem ursprünglichen Zustand gut dokumentierte Villa ist von historischer und baugeschichtlicher Bedeutung. Sie ist nicht nur das einzige in Wipperfürth erhaltene Beispiel eines Fabrikanten-wohnhauses aus der Zeit der Frühindustrialisierung, bei dem sich zudem der Zusammenhang mit den Produktionsstätten noch nachvollziehen lässt, sondern überhaupt das einzige Beispiel eines Wipperfürther Bürgerhauses dieser Epoche, das sein ursprüngliches Gesicht im Wesentlichen bewahren konnte.

  • Kunsthistorisch ist neben der Gesamtanlage die Eingangssituation mit Freitreppe, originaler Kassettentür, mit gusseisernem Zierrat gefülltem Oberlicht, Balkonkonsole, Diele und Treppenhaus von Interesse, wobei die Kombination von Geländeranfänger und Handlauf besondere Beachtung verdient.

  • Historische Bedeutung kommt dem Gebäude auch als langjährigem Wohnsitz Eduard Braunsteins zu, der zu den wichtigsten Wipperfürther Unternehmerpersönlichkeiten des 19. Jahrhunderts gehört. Hier wurden auch fast alle seiner neun Kinder geboren, von denen zwei über Wipperfürth hinaus Bekanntheit erlangten: Hugo Braunstein gründete 1893 ein eigenes Tuchhandelsgeschäft, das, nachdem er es 1896 nach Düsseldorf verlegt hatte, zu einer der führenden deutschen Versandfirmen avancierte[19]; Dr. Iwan Braunstein (1858-1918) erlangte traurige Berühmtheit als Betrüger, der auch des Mordes an seiner Gattin verdächtigt wurde[20].

Im Jahr 2000 wurde die Villa Erste Mühle endlich unter Denkmalschutz gestellt. Dies bedeutete aber leider nicht, dass der Verwahrlosung und den Beschädigungen durch Vandalismus Einhalt geboten und die Restaurierung eingeleitet wurde.

 (Überarbeitete Fassung September 2008, unveröffentlicht)

Bilderserie zu diesem Aufsatz



[1]   Leonard Korth: Wipperfürth, Untersuchungen zur Geschichte niederrheinischer Landstätte, I. Urkundenbuch.
       
Bonn 1891, S. 11-13.

[2]   Annliese Triller / Jörg Füchtner: Das Abschriftenbuch der Stadt Wipperfürth. Essen 1969 (= Landschaftsverband Rheinland,
        Inventare nichtstaatlicher Archive, Bd. 11), S. 11 f. ; die Erste Mühle wurde damals als die „beneden Nederwipper an dem
        Karrberge“ bezeichnet

[3]   Conrad Schmitz: Geschichte der Stadt Wipperfürth bis 1928. Hg. v. Wilhelm Zimmermann, Wipperfürth 1992, S. 21 f.

[4]   Stadtarchiv Wipperfürth, A 79.

[5]   Stadtarchiv Wipperfürth, A 79, A 125, A 126.

[6]   Zur Familie Fomm siehe Arno Paffrath: Hückeswagener Häuser, Heft 2, Hückeswagen 1970, S. 4-11, 60-63.

[7]   Kopie im Archiv des Heimat- und Geschichtsvereins Wipperfürth e.V.

[8]   3 Varianten von 1854, 1859 und 1864 in Sammlung Erich Kahl; Beleg von 1860 im Archiv des Heimat- und Geschichtsvereins
        Wipperfürth.

[9]   Stadtarchiv Wipperfürth, A 173.

[10] Norbert Stannek: Die Treppen des Bergischen Landes, Gestaltung und Technik. Diss. Aachen 1990, S. 71, 87 f., 131 f.

[11] Siehe Totenzettel im Archiv des Heimat- und Geschichtsvereins Wipperfürth e.V.; den größten Teil der Informationen zu den
        Familien Hamm und Braunstein verdanke ich Elisabeth Voogdt, einer Urenkelin Eduard Braunsteins (Manuskript im Archiv des
        Heimat- und Geschichtsvereins Wipperfürth e.V.). Die Grabstätte der Familie Constantin Hamm ist erhalten.

[12] Ein Schriftstück über die Zahlung der Kaufsumme befindet sich im Familienbesitz (Kopie im Archiv des Heimat- und
        Geschichtsvereins Wipperfürth e.V.). Der vorherige Standort der Firma „C. & E. Hamm“ ist bis heute unbekannt. Ein Briefkopf von
        1845 zeigt eine Stadtansicht von Wipperfürth mit dem überproportional wiedergegebenen Teich der ehemaligen Stadtmühle am
        Mahltor im Vordergrund. Die Gebrüder Hamm wohnten in unmittelbarer Nähe dieses ehemaligen Mühlenbetriebs. Ein konkreter
        Beleg dafür, dass sie hier produziert haben, fehlt aber.

[13] Kopie im Archiv des Heimat- und Geschichtsvereins Wipperfürth e.V.

[14] Beleg von 1868 in Sammlung Heinz-Bernd Grenz.

[15] Vertrag im Familienbesitz (Kopie im Archiv des Heimat- und Geschichtsvereins Wipperfürth e.V.)

[16] Fotos im Stadtarchiv Wipperfürth bzw. Archiv des Heimat- und Geschichtsvereins Wipperfürth e.V.

[17] Belege von 1890 und 1895 in Sammlung Erich Kahl.

[18] Beleg von 1891 in Sammlung Erich Kahl.

[19] Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft, Bd. 1, Berlin 1930, S. 206.

[20] Hugo Friedländer: Interessante Kriminalprozesse von kulturhistorischer Bedeutung. 1911 – 1921, Bd. 5, S. 5-29.
        Paul Schweder: Die großen Kriminalprozesse des Jahrhunderts, Hamburg 1961.

Bilderserie zu diesem Aufsatz

 

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